Ziegers Zeilen (KW 45)
Neue Autobahnen führen zu mehr Verkehr, denn sie verleiten zu mehr Fahrten. Deswegen rechnen sie sich unter Klimagesichtspunkten nicht. Insgesamt zwei Drittel der aktuellen Straßenprojekte im Rahmen des Bundesverkehrswegeplanes (BVWP) rechnen sich nicht. Sie sind unwirtschaftlich. Wer das sagt, und noch viel mehr: T & E (Transport & Environment), die Organisation für nachhaltigen Verkehr – jedenfalls ist das die Eigensicht. Wir hatten vielfach über T & E berichtet. Zuletzt über die Expertinnen, die mit frischer Autorität das Thema E-Fuels abräumten. Und jetzt die Straßen. Der Spiegel berichtet in seiner Online-Ausgabe darüber.
Der Auftritt von T & E erinnert an die Anmerkungen der Organisation zu E-Fuels. Jetzt aber geht es T & E um eine offizielle, ehrlichere Klimarechnung beim Straßenbau und die Verhinderung von Milliardengräbern. Klimakosten müssten angemessen berücksichtigt werden. T & E stellt gar eine neue Rechnung an. Zitat aus dem Artikel: „Die Kosten-Nutzen-Analyse für Straßenprojekte im Rahmen des BVWP berücksichtigt laut T & E fast gar nicht den bekannten Effekt des ‚induzierten Verkehrs‘: dass neue und breitere Straßen zu mehr Verkehr und damit zu mehr Emissionen führen. Für die eigene Rechnung habe man nach internationaler Forschung ‚konservativ‘ angenommen, dass ein Prozent mehr Straßenfläche 0,6 Prozent mehr Verkehr bewirkt.“
Diese Dinge setzen sich in dem Bericht fort. Über die Folgekosten einer Tonne CO2 räsoniert man auch. „Während das Umweltbundesamt die Folgekosten einer Tonne CO2 mit 700 Euro werte, gehe der Bundesverkehrswegeplan nur von 145 Euro aus – eine veraltete Zahl von derselben Behörde, die den Wohlstand der heute lebenden Generationen höher bewertet als den der nachfolgenden.“ Ein merkwürdiges Argument. Vielleicht ist die erste Zahl ja nicht richtig. Nicht alles, was Bundesbehörden so herausfinden, muss unbedingt richtig sein. Aber das andere ist ja auch eine Bundesbehörde. Und beides sind Annahmen. Das ist der rote Faden, der sich durch den ganzen Bericht zieht. Annahmen, die wissenschaftlich unterstützt werden.
Genau wie bei den E-Fuels. Auch dort sind es Annahmen. Annahmen, dass es so sein könnte und nicht so. Ein wenig erinnert es an die Berechnungen der Investmentbanken während der Finanzkrisen. Alles streng wissenschaftlich. Aber vor den Berechnungen stehen immer wieder Annahmen. Annahmen sind alles andere als etwas Wissenschaftliches. Sie sind Annahmen. Zukunftsprognosen, die einem möglichen Szenario nahekommen sollen.
Aber sie sind alles andere als eine echte wissenschaftliche Basis. Sie sind vielmehr der erste Schritt zu einem wissenschaftlichen Ergebnis. Am Anfang steht eine Annahme. Man kann auch von Hypothese sprechen. Danach wird es wissenschaftlich. Aber erst danach. Zu dieser Erkenntnis verhilft einem eine kleine siebenseitige Empfehlung zum wissenschaftlichen Arbeiten aus dem Beck Verlag. Geschrieben hat sie unter dem Titel „Auf dem Weg zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis“ Dr. Günter Lehmann, Vizepräsident des Europäischen Instituts für postgraduale Bildung an der TU Dresden (EIPOS) sowie Dozent an der Dresden International University (DIU). Bevorzugte Forschungsgebiete: Techniken wissenschaftlichen Arbeitens, Ingenieurpädagogik. In diesem Beitrag steht, dass hinter der Forschungsfrage in der Regel eine Annahme steht, das heißt eine Hypothese über die Existenz eines bestimmten Phänomens. Das führt Professor Lehmann auch weiter aus. Am Ende dieses Absatzes steht, dass eine Annahme auch falsch sein kann. Widerlegbar. Auch das muss man sich überlegen.
Zurück zu dem Beitrag aus dem Spiegel. Vieles, was wissenschaftlich verkauft wird, basiert auf Annahmen. Manchmal auch nicht. Um jetzt nicht wie ein Verschwörungstheoretiker zu wirken. Echte Annahmen sollten offengelegt werden. Sie sollten überprüfbar sein. Sie sollten sich nicht unbedingt gegenseitig befruchten. Sonst läuft alles ohne Kontrolle in die falsche Richtung. Manches auf dem Weg in die Zukunft ist nicht unbedingt vorhersehbar. Je weiter die Zukunft entfernt ist, desto mehr läuft man Gefahr, dass zwischendurch dann doch jemand das Rad erfindet.
Vielleicht hilft George Orwell weiter. Er hat an der Zukunft gearbeitet. In einem Buch über die Zukunft von Florence Gaub mit dem Titel „Zukunft – Eine Bedienungsanleitung“ ist auf Seite 136 ein interessanter Satz von George Orwell zu finden: „Menschen können die Zukunft nur dann vorhersehen, wenn sie mit ihren eigenen Wünschen übereinstimmt.“ George Orwell hat diesen Satz im Jahre 1945 geschrieben. Er findet sich in den „London Letters“ in der Zeitung „Partisan Review“. Florence Gaub gebührt die Ehre, diesen wunderbaren Satz gefunden zu haben, der nahtlos in die heutige Zeit passt.
Ihr
Stephan Zieger