Zwei historische Urteile
Die aktuellen Urteile des Bundesverfassungsgerichts (BVG) und des Bezirksgerichts Den Haag haben die allgemeine Öffentlichkeit und die Branche beschäftigt. Beide Gerichte trafen historische Entscheidungen und nutzten dafür Anspruchsgrundlagen, die bisher nicht mit Klimaschutz verbunden waren.
Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Das BVG hat die Verfassungswidrigkeit des Klimaschutzgesetzes damit begründet, dass Artikel 2 des Grundgesetzes eine allgemeine staatliche Schutzpflicht für das Leben und die körperliche Unversehrtheit beinhaltet und diese auch in die Zukunft gerichtet ist. Darin eingeschlossen ist der Schutz vor Umweltbelastungen. Der Staat muss also „vor den Gefahren des Klimawandels schützen“. Das kann nicht umfassend, aber gegen absehbare Beeinträchtigungen sein. Das Gericht betont, dass der Staat in diesem Zusammenhang eine Verpflichtung zum Handeln im Rahmen eines vernünftigen Schutzkonzeptes habe. Ausführlich begründet das Verfassungsgericht, warum insbesondere die Pariser Klimaziele hier eingeschlossen sind. Das Gericht diskutiert, welche Maßnahmen geeignet oder erforderlich sind und wie diese umgesetzt werden können.
Zukünftige Beeinträchtigungen können durch Eingriffe in aktuelle Freiheitsrechte juristisch zulässig sein. Das folgt – und damit beruft sich das Gericht auf eine weitere Norm des Grundgesetzes – aus der Handlungspflicht des Staates in Artikel 20 a des Grundgesetzes. Hiernach hat der Staat für die natürlichen Lebensgrundlagen eine Handlungspflicht. Der Staat darf sich nicht dadurch entlasten, dass er die wirklich belastenden Eingriffe erst in der Zukunft macht. Eine solche Entlastung ist verfassungswidrig. Der Staat muss jetzt schon sichtbar handeln, um seinen Verpflichtungen zu genügen.
Das Gericht selbst kann keine eigenen Ideen und Überzeugungen anstelle des Gesetzgebers setzen. Es zwingt den Staat damit aber zu einer intensiveren Gesetzgebungsarbeit. In der Politik ist begrüßt worden, dass der Klimaschutz auf diese Art und Weise zum Staatsziel geworden sind. Dadurch werden die Debatten intensiver werden. Das Parlament wird mehr Mitspracherechte haben und die öffentliche Diskussion erlebbarer werden.
Urteil des Bezirksgerichts Den Haag
Das Bezirksgericht Den Haag hat Shell dazu verurteilt, die eigenen CO²-Emissionen und diejenigen der Handelspartner und Endkunden um 45 Prozent zu reduzieren. Der Weg dahin ist dem Konzern freigestellt, muss aber jetzt schon beginnen. Deswegen hat das Bezirksgericht das Urteil für sofort vollziehbar erklärt, auch wenn noch Rechtsmittel zulässig sind. Dem Gericht ist dabei bewusst, dass viele Aktivitäten, die Shell einschränken muss, dann von anderen Spielern übernommen werden.
Als Anspruchsgrundlage haben die niederländischen Richter eine Produktbeobachtungspflicht herangezogen. Sie haben, wie die deutschen Richter, den Klimawandel und seine Auswirkungen als Tatsache festgelegt, die im Grundsatz nicht mehr diskutiert werden kann. Als Schaden, den es zu begrenzen gibt, haben die Richter den Schutz der Einwohner und Bewohner der küstennahen Regionen der Niederlande gewählt, die durch den Anstieg des Meeresspiegels ihre Lebensgrundlage verlieren oder Einschränkungen hinnehmen müssen. Shell ist mit seinen Aktivitäten und seinen Produkten für einen erheblichen Umfang des Klimawandels zuständig, sagen die Richter in ihrer Begründung. Und da sie zuständig sind für die Beklagten im Gerichtsbezirk Den Haag, können sie entsprechend urteilen.
Das Verfassungsgerichtsurteil in Deutschland zwingt den Staat zu einem Mehr an – öffentlichem – Handeln. Das niederländische Urteil hat, wenn es Bestand hat, Auswirkungen auf die Shell, ihre Handels- und Endkunden weltweit. Würde es linear angewendet, müsste jeder Partner von Shell eine entsprechende Einschränkung hinnehmen, könnte sich aber – und das ist die andere Seite des Urteils – dann auch anders orientieren.
Man mag das gut finden oder nicht. Beide Urteile zeigen auf, wie groß der Umbruch ist, in dem sich die Gesellschaft im Moment befindet. Und seitens der Gerichte wird ein erheblicher Handlungsdruck aufgebaut. Hierauf eine Antwort zu finden, ist jetzt Aufgabe von allen. Wir werden nicht das letzte Mal über solch weitreichende juristische Entscheidungen berichtet haben.
Stephan Zieger, bft-Geschäftsführer